Zur Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses
Zusammenfassung zum Vortrag am 11.04.2001 Referent: Dr. Weiss, Volkmar (Rietschelstr. 28, 04177 Leipzig)
Bereits am 7.4.1933 erließ der Reichsminister des Innern der von Hitler
geführten Koalitionsregierung das „Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums“. Der von diesem Gesetz geforderte „arische
Abstammungsnachweis“ bis 1800 zurück machte die Genealogie zu einem Politikum
von existenzieller Bedeutung für den betroffenen Einzelnen und zentraler für die
Gesellschaft. Für die Genealogen selbst brachten die geforderten
Abstammungsnachweise zweifellos einen in dieser Art einmaligen
Beschäftigungsschub und ein staatlich gefördertes, steigendes Interesse an
Familiengeschichte, das dazu geeignet war, kritische Fragen von ihrer Seite erst
einmal an die zweite Stelle zu stellen. Stark gefördert wurde das Interesse an
Familiengeschichte auch durch das „Reichserbhofgesetz“ vom 29.9.1933, mit dem
das Anerbenrecht geregelt werden sollte. Daß beide Gesetze so rasch und
unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung erlassen werden
konnten, läßt darauf schließen, daß ihr geistiger Gehalt bereits vor 1933
vorgeformt worden war.
Angesichts der politischen Bedeutung, der die Genealogie im Zeitraum 1933 bis
1945 zukam, ist es erstaunlich, daß das Thema von Fachhistorikern lange
übersehen worden ist. Ein Grund für die lange Nicht-Beachtung mag sein, daß die
historische Aufarbeitung dieser Zeit oft bei der Person Adolf Hitler ansetzt.
Hitler aber, der ein erklärter Gegner von Vetternwirtschaft war, hat sich für
seine eigene Ahnenliste wenig interessiert und - im Unterschied zu Himmler - das
Reichssippenamt oder die Ahnenstammkartei niemals persönlich besucht. Zu
tieferen Einsichten gelangt man erst, wenn man die Aufmerksamkeit auf die beiden
Diplom-Landwirte Richard Walther Darré (1895-1953) und Heinrich Himmler
(1900-1945) richtet und ihre Rolle in der Führungsspitze der
Nationalsozialisten.
Wenn man die Frage stellt, warum die Genealogen selbst nach 1945 so wenig zur
Aufhellung ihrer eigenen Geschichte beigetragen haben, so wird man
wahrscheinlich zu der Erklärung gelangen, daß wohl alle in den Fünfziger Jahren
führenden deutschen Genealogen ihr Handwerk bereits vor 1945 gelernt haben und -
ungeachtet, ob in zustimmender Begeisterung oder kritischer Grundhaltung -
irgendwann einmal ihre Briefe mit „Heil Hitler“ unterzeichnet haben bzw.
unterzeichnen mußten. Erst eine spätere Generation hat den notwendigen
historischen Abstand.
Hohlfeld meinte 1944:„Der Nachweis der arischen Abstammung, der heute in
Deutschland als Voraussetzung fast jeder wesentlichen beruflichen Betätigung,
als Grundlage der Zugehörigkeit zu Volk und Staat, Heer und Partei gefordert
wird, gilt mit Unrecht als eine revolutionäre Neuerung. In Wahrheit ist er die
Wiederaufnahme eines Brauches, der urkundlich bis ins frühe Mittelalter
verfolgbar ist.“ Es ist zwar richtig, daß bis in die Frühe Neuzeit für die
Aufnahme in eine Zunft und damit auch für den Erwerb des Bürgerrechtes von
stadtfremden Bewerbern ein „Geburtsbrief“ verlangt wurde, indem die eheliche
Geburt bescheinigt wurde und daß der Bewerber nicht „unehrlicher oder
wendischer“ Herkunft sei. Im Osten Deutschlands wurden damit Slawen
ausgeschlossen, Juden waren es sowieso. Aber den Ursprung des „arischen“
Ahnenpasses auf diese Weise einfach ins Mittelalter zurückzuverlegen, würde die
Entwicklung vor und nach 1933 verharmlosen.
Die Entwicklung bis 1933 kann man erst begreifen, wenn man die
Entstehungsbedingungen des Antisemitismus verstehen lernt. Schon 1879 hatte der
Historiker v. Treitschke geschrieben: „Die Zahl der Juden in Westeuropa ist so
gering, daß sie einen fühlbaren Einfluß auf die nationale Gesittung nicht
ausüben können; über unsere Ostgrenze dringt aber Jahr für Jahr aus der
unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender
Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und
Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer
ernster wird die Frage, wie wir dieses fremde Volkstum mit dem unseren
verschmelzen können.“ Und im Rückblick kommt der Historiker Hans Rosenberg 1967
zu dem Schluß: „Der moderne Antisemitismus Mitteleuropas ist aus spezifischen
historischen Umständen erwachsen, die zu den Nebenprodukten oder
Begleiterscheinungen der Industriellen Revolution gehören. Seinem Ursprung nach
war er eine relativ spät einsetzende, heterogene Widerstandsbewegung, die sich
gegen die einflußreiche, als übermächtig, oft als Fremdherrschaft empfundene
wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Stellung richtete, welche sich
ein sehr erheblicher Teil der jüdischen Minoritätengruppe ... seit der
gesetzlichen Sanktionierung der formalen Gleichberechtigung ... hatte erringen
können.“
Zwei bis drei Jahrzehnte vor dem Jahre 1933 hatte der Rassenantisemitismus in
weiten Kreisen der akademischen Jugend Anklang gefunden. Um 1933 befand sich
diese Generation in einem Alter, wo sie an vielen einflußreichen Stellen
vertreten war. Die nächste junge Generation war eher noch aktiver: Der
Machtergreifung am 30.1.1933 ist der 21.7.1931 vorangegangen, an dem auf dem
Grazer Studententag der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund die
demokratische Mehrheit in der Deutschen Studentenschaft errang.
In dem Moment, wo der Religionsantisemitismus in den Rassenantisemitismus
überging, reichte es nicht mehr aus, daß jemand getauft war oder nicht. Man
brauchte das „Blutsbekenntnis“. Nun war aber die „jüdische Rasse“ insofern eine
Fiktion, da es nicht und schon gar nicht mit Sicherheit möglich war und ist,
Juden von Deutschen am äußeren Erscheinungsbild zu unterscheiden. Das merkten
die Antisemiten natürlich auch, und es erschien ihnen ganz besonders gefährlich.
„Wir verlangen deswegen von jedem Studenten, ... daß er das Blutsbekenntnis
ablegt, daß er auf Ehrenwort versichert, nach bestem Wissen und Gewissen
arischer Abstammung zu sein. Genügt das aber, darf uns das genügen in einer
Zeit, wo - leider - noch die wenigsten eine klare Vorstellung von der Geschichte
ihrer Vorfahren haben? Frage sich jeder Leser einmal nur nach den Namen seiner 8
Urgroßeltern, kennt er sie überhaupt noch? Und wenn er schon ihre Namen
aufzählen kann, was weiß er von der Herkunft seiner Vorfahren? So kann also
jemand nach bestem Wissen versichern er sei arischer Herkunft, ohne es zu sein,
wenn er sich nicht von vornherein darüber klar ist, daß für Rassenzugehörigkeit
nicht allein die Vorfahren im Mannesstamm ... ausschlaggebend sind, sondern daß
hierzu die Vorfahrenreihen in ihrer Gesamtheit gehören. Das heißt also, wollen
wir zu einem einwandfreien Blutsbekenntnis kommen, so müssen wir die
Familienforschung, insbesondere den Zweig, den wir als Ahnentafelforschung
kennen, heranziehen.“, konnte man schon 1920 in einer Studentenzeitung lesen.
Juden schrieb man eine eigene „Rassenseele“ zu, die durch die christliche Taufe
nicht verändert würde und die zu Verhaltensweisen führen würde, die mit dem
deutschem Wesen unvereinbar seien. Die Vermischung von jüdischem und „arischem
Blut“ wurde als gefährlich angesehen, weshalb man glaubte, Judenmischlingen und
getauften Juden mit besonderem Eifer - auch genealogischem - nachstellen zu
müssen. Das führte zu dem Paradox, daß zu dem Zeitpunkt, als sich die
Assimilation der Juden verstärkte - 1932 heirateten bereits 36% aller deutschen
Juden Nicht-Juden - ihre Diskriminierung ebenfalls verstärkte.
Schon 1920 hatte zwischen Bernhard Koerner vom „Deutschen Roland, Verein für
deutsch-völkische Sippenkunde zu Berlin“ und den führenden Männern der Leipziger
Zentralstelle eine bittere Polemik begonnen, die durch den von Koerner
herausgegebenen 32. Band des „Deutschen Geschlechterbuches“ ausgelöst wurde, das
mit zwei Hakenkreuzen im Schmutztitel erschienen war. Koerner empfahl
Mitgliedern genealogischer Vereine, „die jüdische oder farbige Bluts-Beimischung
haben oder mit einer Frau solchen Blutes verheiratet sind, sollen auf ... die
Ortsgruppe der Zentralstelle in Leipzig, die sie sicher gern aufnehmen werden,
verwiesen werden.“
Für Bernhard Koerner und seine geistigen Parteigänger trat mit dem Jahre 1933
zum erstenmal ein Staat in die Geschichte, der mit der Nietzscheschen Forderung
„Nicht fort sollt ihr Euch pflanzen, sondern hinauf“ blutigen Ernst zu machen
begann, denn mit Darré und Himmler waren zwei Viehzüchter an die Schaltstellen
der Macht gelangt.
„Hiermit erkläre ich meinen Beitritt zur Zentralstelle für Deutsche Personen-
und Familiengeschichte und abonniere auf die Familiengeschichtlichen Blätter“,
so lautet das Ameldeformular von Richard Walther Darré, cand. agr. in Halle, vom
29.4.1924. Einen besonderen Eindruck auf Darré machte Frölichs „Lehrbuch der
Pferdezucht“. Auf S. 455 des Lehrbuchs ist ein Stutbuch-Formular des Gestüts
Trakehnen wiedergegeben, und es wird auf S. 431 auf ein „Übungsheft für die
Anfertigung von Ahnentafeln“ der Deutschen Gesellschaft für Züchtungskunde aus
dem Jahre 1924 verwiesen. „Unerläßlich ist hier die Zuchtbuchführung und die
Nachkommenbeurteilung. Die Ahnentafel ist nur dann von Wert, wenn die
betreffenden Individuen einzeln bekannt sind“, lehrt Frölich den Züchtern.
Vergleicht man nun die Stutbuch-Formulare mit ihrer Forderung nach genauer
bildlicher Erfassung, Messung und normierter Beschreibung schon des rein
äußerlichen Erscheinungsbildes eines Tieres und seiner Rasse, ebenso aber für
die von ihm abstammenden Tiere und nach Möglichkeit auch für seine Ahnen und
nimmt das fast zur selben Zeit erschienene „Familienbuch“ von Scheidt für die
anthropologische Familienforschung zur Hand, so muß sich die Analogie der
Verfahren und der theoretischen Begründung für denjenigen aufdrängen, der
zuallererst von der Analogie beeindruckt ist und nicht von der unterschiedlichen
Problemlage bei Mensch und Tier. Darré war, als er sich 1924 bei der Leipziger
Zentralstelle anmeldete, offensichtlich dabei, in den Bann der Analogie zu
geraten, im selben Jahr aber auch Heinrich Himmler, der einen ähnlichen
Bildungshintergrund wie Darré hatte.
Die NSDAP verlangte von ihren Mitgliedern seit ihrer Gründung das arische
Blutsbekenntnis in Form einer einfachen Erklärung. Am 10.5.1930 kam es auf Burg
Saaleck zu der historischen Begegnung zwischen Hitler und dem bis dahin
parteilosen Darré, in dessen Folge Darré die Leitung der gesamten Agitation der
NSDAP gegenüber der Bauernschaft übertragen wurde. Auch für Himmler war Darré
der geeignete Partner. Am 31.12.1931, als Himmler den „Verlobungs- und
Heiratsbefehl“ der SS erließ, berief er Darré zugleich zum Chef des „Rasse- und
Siedlungshauptamtes SS“. Der Befehl gestattete einem SS-Mann die Heirat nur
dann, wenn ihm der Reichsführer SS dazu seine Zustimmung gab.
Rasse auch als mögliches Ergebnis eines politischen Willensaktes verstehen zu
können, war dabei durchaus Zeitgeist. Zum Beispiel hatte Professor Dr. Hans
Friedenthal, selbst Jude, in seinem Vortrag vor der „Gesellschaft für jüdische
Familienforschung“ am 24.3.1926 in Berlin gesagt: „Von den Tierzüchtern wird das
Wort Rasse in dem Sinne gebraucht, um eine Summe von Individuen zu bezeichnen,
welche vom Menschen nach bestimmten Prinzipien ausgelesen wird, um ein vom
Menschen festgesetztes Zuchtziel zu erreichen. ... Könnte die Menschheit sich
ein besseres Ziel setzen, als die Erzeugung des Menschen anzustreben, welcher
zugleich gut und klug, gesund und schön ist? ... Der Weg zur Erreichung dieses
Zieles wäre derselbe wie bei den Tieren“.
Oscar Stillich, der Verfasser des außerordentlich sachkundigen und kritischen
„Deutschvölkischen Katechismus“ von 1931, irrte sich gründlich, wenn er meinte:
„In ferner Zeit, wenn die Menschheit etwas weiter fortgeschritten ist als heute,
wird man sicherlich mit grenzenlosem Erstaunen von der Existenz der
(deutschvölkischen) Verbände und Organisationen und ihren Anschauungen lesen.
... Man wird vielleicht geneigt sein zu glauben, es handle sich ... um
Fantasieprodukte. ... Die hier behandelten Organisationen sind zeitbedingt, Sie
sind vorübergehende Erscheinungen.“ 1933 kamen die „vorübergehenden
Erscheinungen“ an die Macht und verloren sie erst nach zwölf, zum Schluß sehr
bitteren Jahren, wieder. Im Schatten von Hitler war die Macht eines Darré und
eines Himmler angesiedelt, aus der sich die Rolle der Genealogie im Dritten
Reich ergab.
Der Vortrag ist in stark erweiterter Form in drei Teilen veröffentlicht worden
in:
Weiss, Volkmar: Die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses. Teil I: Das
sogenannte Blutsbekenntnis. Genealogie 50. Jg. (2001) S. 417-436; Teil II:
Historische oder völkische Genealogie?, S. 497-507; Teil III: Die
Machtergreifung der Viehzüchter. Heft 7/8.
In diesen drei Teilen findet man auch die genauen bibliographischen Angaben der
im Vortrag bzw. in der hier vorgelegten Kurzfassung verwendeten Zitate.
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